Impulskontrolle macht müde und aggro. Warum wir am Dessertbuffet ausflippen.
Sie hat dem Impuls zu graben nachgegeben.
Impulskontrolle ist im Hundetraining ein grosses Thema. Dabei steht wohlgemerkt das Training der Impulskontrolle der Hunde im Zentrum. Eine Studie hat nun gezeigt, weshalb es uns Menschen irgendwann den «Nuggi raushaut». Bei Hunden dürfte es sich ähnlich verhalten. Es ist nämlich so, dass Impulskontrolle für unser Gehirn ziemlich anstrengend ist («causes increased sleep-like activity») und dass uns, jetzt kommts, ein solchermassen ermüdetes Gehirn in der Folge aggressiver und weniger empathisch reagieren lässt.
Deshalb flippen wir aus!
Direkt in den Alltag übertragen bedeutet dies in ungefähr: Nehmen wir uns an der kommenden Weihnachtsfeier während des ganzen Essens stark zurück, sitzen still und widerstehen über längere Zeit dem Drang, uns gemütlich mit Netflix und offenem Hosenknopf auf das Sofa zu schmeissen, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir spätestens am Dessertbuffet die Contenance verlieren, Onkel Rüdiger den Ellbogen in die Seite rammen und uns ungehemmt auf das letzte Luxemburgerli stürzen.
Der Test ging übrigens so, dass 450 ProbandInnen verschiedene Aufgaben lösen mussten. Alle Aufgaben waren knifflig, die Aufgaben für die Testgruppe erforderten jedoch zusätzlich noch Selbstkontrolle, instinktives Verhalten musste also zugunsten von sozial erwünschtem Verhalten gezügelt werden. Im Anschluss an die Aufgaben wurde emotionales und soziales Verhalten abgefragt und getestet. Hier zeigte sich, dass sich die Kontrollgruppe (also die ohne Selbstkontrolle) im anschliessenden Test freundlicher, empathischer und sozialer verhalten hat. Die Testgruppe, die ihre Instinkte kontrollieren mussten, reagierte später aggressiver. Dabei war die Zündschnur der Aggression individuell unterschiedlich lang: die einen flippten bereits nach 10 Minuten Hirnstress aus, andere waren auch nach 45 Minuten Impulskontrolle noch nett. Eigentlich möchten wir ja alle nett sein, aber wir schaffen es rein neurologisch nicht immer! Impulskontrolle kann gemäss Studie soweit eingeübt werden, dass sozial erwünschtes Verhalten zur Gewohnheit wird und für das Gehirn dann nicht mehr so anstrengend ist. Wir haben wahrscheinlich irgendwann mal gelernt, nicht mehr ungehemmt in der Nase zu bohren, auch wenn der Impuls und die Gelegenheit dazu vielleicht da wären.
Wer mehr dazu wissen will, hier geht es direkt zur Studie: https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2404213121
Aber jetzt, was hat das mit Hunden zu tun?
Ob Hunde die gleiche Hirnaktivität aufweisen, wenn sie ihre Impulse kontrollieren müssen, weiss ich nicht. Aus meiner täglichen Arbeit und auch aus Studien mit Hunden weiss ich hingegen, dass stark kontrollierte und gehemmte Hunde ein grösseres Aggressionsrisiko bergen als entspannte und weniger gedeckelte Hunde. Dass dabei genau die Hunde, die bis in die Hilflosigkeit in den Griff bekommen, gehemmt und trainiert werden, als besonders «brav» und «gut erzogen» gelten, ist traurig, aber wahr.
Please: Achtsames Training an der Impulskontrolle
Es ist unbestritten, dass Hunde lernen müssen, sich im Alltag in gewissen Situationen zurückzunehmen.
Sie müssen und sie können lernen
geduldig auf ihr Essen zu warten
flüchtendem Wild nicht hinterher zu hetzen
die Katze im Haus nicht zu jagen
dem Kind das Sandwich nicht aus der Hand zu schnappen
die Handtasche nicht auszuräumen
den Besuch nicht anzuspringen
die Joggerin nicht zu stoppen
übergriffige Berührungen geduldig zu ertragen
und noch vieles mehr
Die Kunst besteht darin, dies deinem Hund im Alltag freundlich und achtsam beizubringen. Mach den Perspektivenwechsel und sei dir bewusst, welche Leistung in Sachen Impulskontrolle du tagtäglich von deinem Hund erwartest und er dir zeigt!
Überlege dir sorgfältig, auf welche Weise du Impulskontrolle trainierst und welche Nebenwirkungen dein Training haben könnte. Je entspannter und automatischer dein Hund Alternativerhalten abfragen kann, weil sie gut und positiv eingeübt sind, desto mehr Reserven bleiben ihm für schwierigere Aufgaben.
Darauf musst du achten
Die Grundbedürfnisse nach Nahrung, Wasser, Sicherheit, Rückzug, Ruhe, Schlaf, Bewegung, Selbstwirksamkeit, Sozialkontakte zu Menschen und Hunden müssen immer befriedigt sein
Impulskontrolle gerade in Bezug auf Futter kann ganz unschöne Folgen bezüglich Ressourcenverteidigung haben. Behalte dies genau im Auge und stell dir einfach vor, man würde diese Übungen mit dir machen!
Baue das Training in ganz kleinen Schritten auf, positiv und an unterschiedlichen Reizen
Nutze gutes Management und biete in schwierigen Situationen immer soziale Unterstützung
Trainiere dein Auge und lerne, das Ausdrucksverhalten deines Hundes rasch und sicher zu erfassen. Dazu habe ich einen Kurs ;-)
Erinnere dich ans Dessertbuffet: Impulskontrolle ist anstrengend und macht hässig. Bringe deinem Hund Verständnis für seine natürlichen Instinkte und seine Bedürfnisse entgegen.
Achte mal darauf, wie oft sich dein Hund jeden Tag zurücknimmt (eingeübtes Verhalten, das automatisch kommt) oder sich zurücknehmen muss, weil du es in irgendeiner Weise einforderst. Wie sieht er dabei aus? Was passiert unmittelbar nachher?
Überlege dir sorgfältig, wie du Frust abfängst und die Leistung des Hundes bedürfnisorientiert verstärkst und belohnst.
Auf zum Selbsttest und Perspektivenwechsel
Wenn du live ausprobieren willst, wie Impulskontrolle und Aggression bei Menschen zusammenhängen, kannst du deine Liebsten oder den Besuch (für Fortgeschrittene) beim nächsten Essen vor den vollen Tellern warten lassen und noch ein paar absurde Turnübungen von ihnen verlangen. Das kommt bestimmt super an und ich freue mich auf die Erlebnisberichte!